Wer eisern rund 2,5 Stunden pro Woche in Bewegung ist oder täglich 10.000 Schritte tut, schiebt laut der Prospective Urban Rural Epidemiology – einer 7 Jahre dauernden Studie mit 170.000 Menschen – seinen Tod um sieben Jahre hinaus.
Würde man zu Fuß vom Bahnhof in Düsseldorf zum Ortsteil Rath marschieren, wäre alles gut. Man hätte die tägliche Bewegungspflicht erfüllt, indem man 6,6 Kilometer zurücklegt hat, also ungefähr 10.000 Schritte. Dafür würde man durchschnittlich eine Stunde und 22 Minuten benötigen. Ähnlich weit ist die Strecke von Mönchengladbach nach Wickrath. Aber anderthalb Stunden Fußweg? Das ist realistisch betrachtet eine Wanderidee fürs Wochenende. Es jedoch täglich zu tun – undenkbar, zumindest für die meisten Deutschen. In Zahlen beweist das die Bewegungsstudie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2016: Nur 21 Prozent der Befragten bewegen sich ausreichend. 48 Prozent gaben in der Studie an, Sportmuffel zu sein, 66 Prozent sind nicht einmal eine Stunde am Tag aktiv. Dabei empfiehlt es die Gesundheits-App auf dem Handy anders. Alternativ zu den 10.000 Schritten empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 150 Minuten moderate Bewegungszeit in der Woche. Moderat heißt: etwas aus der Puste zu kommen und ein bisschen zu schwitzen. Wer richtig Sport macht, hat schon mit 75 Minuten in der Woche das Mindestmaß erfüllt.
Die meisten aber richten sich nicht nach den Angaben des Zeit-, sondern des Schrittmessers. Warum, macht Michael Fritz, stellvertretender Vorsitzender des Sportärztebunds Nordrhein aus Viersen, deutlich: „10.000 Schritte geschafft zu haben, motiviert stärker als eine Stunde spazieren gegangen zu sein.“ Warum aber nun 10.000 Schritte? Angeblich, so eine Erklärung, der New York Times, brachte ein japanisches Unternehmen zu den Olympischen Spielen Mitte der 60er Jahre in Tokio einen ersten Schrittzähler auf den Markt. Sein Name: „Man-po-kei“. „Man“ bedeutet so viel wie „10.000“, die anderen Wörter „Schritt“ und „Maß“. Das Werbeversprechen um diesen Schrittzähler: 10.000 Schritte am Tag seien Ausdruck eines gesunden Lebensstils. Mit der Zeit verselbstständigte sich die Zahl und blieb als Richtwert in den Köpfen hängen.
Doch bekommt dieser Mythos valide Zahlen aus der Forschung an die Seite: Denn große Studien aus den USA legten die Messlatte bei ebenso vielen Schritten an. „Es gibt zudem zahlreiche nationale und internationale Studien, die zum gleichen Ergebnis kommen“, sagt Christine Graf. Sie ist Sportwissenschaftlerin am Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaften der Deutschen Sporthochschule Köln. Als Maß aller Dinge gilt die Zahl 10.000 dennoch nicht. Sie bleibt ein Richtwert. „Wer abnehmen möchte, sollte sich eher an 13.000 Schritten täglich orientieren“, sagt die Sportwissenschaftlerin. 5000 Schritte seien meist zu wenig und 20.000 effektiver, aber für den Durchschnittsbürger eher abschreckend, sagt Fritz.
15.000 Schritte sollten es laut einer Studie aus dem Jahr 2017 sein. Darin untersuchten Wissenschaftler der University of Warwick Postmitarbeiter und Büroangestellte aus Glasgow und statteten sie mit Fitness-Trackern aus. Das Ergebnis: Die Postboten, die sich mehr bewegten, hatten einen geringeren Taillenumfang, BMI und bessere Blutzucker- und Cholesterinwerte. Darüber hinaus fanden die Forscher heraus, dass mit jeder Stunde in sitzender Tätigkeit das Risiko, später eine Herzerkrankung zu bekommen, um zwei Prozent steigt. Umgekehrt sinkt die Wahrscheinlichkeit, an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu sterben um 20 bis 30 Prozent, wenn man sich mit 2200 Schritten zusätzlich am Tag moderat bewegt. Eine große Bedeutung hat Bewegung auch in der Krebsprävention: „In 126 Studien konnte nachgewiesen werden, dass 150 Minuten Sport pro Woche (10.000 Schritte täglich) die Wahrscheinlichkeit für Frauen, an Brustkrebs zu erkranken, um 35 Prozent senken“, sagt Fritz. Das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, reduziert sich um 20 bis 30 Prozent, wenn man jeden Tag eine Stunde in schnelles Gehen investiert.
Also doch jeden Tag von Düsseldorf bis Rath? Nein, das ist nicht nötig, denn jede Form der Bewegung zählt, sagt Graf. Auch schon der Weg zum Kopierer und zurück bringt das Ziel näher. Ebenso der Gang über die Treppe statt den Aufzug. Wer morgens mit dem Rad zur Arbeit fährt, kann auch das in Schritte umrechnen: Eine Stunde langsames Radfahren entspricht laut Sportmediziner Fritz etwa 7.500 Schritten, zügiges Radfahren 14.500. Eine Stunde Joggen bringt so viel wie 12.500 Schritte, langsames Schwimmen 11.000 und langsames Tanzen 6000. Auch einfache Bewegung addiert sich: Eine Stunde Gartenarbeit ist so viel wie 7300 und Shoppen rund 4200 Schritte. „Denn der Energieverbrauch durch Bewegung wird in der Regel völlig überschätzt“, sagt Graf. Für die Verbrennung eines Würfelzuckers (12 kcal) müssen wir laut der Sportwissenschaftlerin 500 Schritte zurücklegen. Um eine Tafel Schokolade loszuwerden, heißt es eine Stunde Joggen.
Walter, T., 02.09.2019, Sieben Jahre länger leben, Rheinische Post, abgerufen am 17.09.2019